Die unsichtbaren Käfige – Warum Sucht weniger mit Drogen und mehr mit uns zu tun hat
Stell dir vor, du bist eine Ratte. (Keine Angst, das wird kein Biologieunterricht.) Du bekommst zwei Trinkflaschen. Eine mit Wasser. Eine mit Wasser plus Heroin oder Kokain. Die Wahl liegt bei dir. Klingt simpel? In klassischen Experimenten wählten die Ratten fast immer das Drogenwasser. Die Folge: Überdosis. Tod. Abspann.
Doch dann kam ein gewisser Professor Bruce K. Alexander in den 1970er-Jahren daher und dachte sich: Moment mal. Was, wenn die Ratte nicht das Problem ist, sondern der Käfig?
Willkommen im Rat Park
Alexander baute einen Ratten-Spielplatz namens „Rat Park“. Da gab’s Tunnel, Bälle, Käse, Rattenfreunde, vermutlich sogar Jazzmusik. Und siehe da: Plötzlich wollten die Ratten kaum noch das Drogenwasser. Einige rührten es gar nicht erst an. Die Überdosisquote? Von fast 100% auf praktisch null.
Die moralische Lektion? Vielleicht geht es bei Sucht gar nicht primär um chemische Haken, sondern um soziale Leere. Vielleicht ist Sucht weniger eine Krankheit und mehr eine Anpassung. Oder anders gesagt: Wenn du keine Verbindung zu anderen findest, suchst du dir eine zu etwas – sei das Heroin, Shopping oder TikTok.
Die neuen Süchte sind digital – und legal
Wenn du jetzt denkst: „Ich bin doch nicht süchtig, ich nehme keine Drogen!“ – Herzlichen Glückwunsch. Aber darf ich fragen, wie oft du heute schon auf dein Smartphone geschaut hast? Oder wie viele Tabs du gerade offen hast (nein, der Browser-Tab mit dem ökologischen Waschmittel zählt nicht)?
Die modernen Süchte sind charmant verpackt und stigmatisieren nicht. Sie kommen als App, als Like, als flüchtiger Dopaminrausch.
In der Schweiz zeigen laut Bundesamt für Statistik rund 4% der Bevölkerung problematischen digitalen Konsum. In der Altersgruppe 15–24 Jahre sind es gar über 11%. Besonders beliebt: Social Media, Gaming, Online-Shopping und Streaming.
Aber hey, das ist alles legal. Und bequem. Und gesellschaftlich akzeptiert. Wer braucht schon Heroin, wenn man sich dreimal täglich mit Benachrichtigungen zudröhnen kann?
Süchtig nach allem – nur nicht nach Aufmerksamkeit
Nebst digitalen Abgründen gibt es noch weitere stille Suchtzonen:
Kaufsucht: 5-8% der Erwachsenen sind betroffen.
Glücksspielsucht: Rund 70'000 Menschen in der Schweiz gelten als pathologische Spieler.
Sex- und Pornosucht: Hoch tabubehaftet, kaum erforscht, aber omnipräsent.
Gemeinsam ist ihnen: Sie sind schambehaftet, oft versteckt, und werden selten als "echte" Sucht ernst genommen. Warum? Vielleicht, weil sie uns zu sehr an uns selbst erinnern.
Der Mensch, das bindende Wesen
Johann Hari, britischer Autor und TED-Talk-Star, bringt es auf den Punkt:
„Das Gegenteil von Sucht ist nicht Abstinenz. Das Gegenteil von Sucht ist Verbindung.“
Menschen müssen sich verbinden. Wenn diese Verbindung zu anderen fehlt, suchen wir sie woanders. Das mag erst tröstlich sein, endet aber häufig im Chaos. Die Flucht in Konsum, in Verhalten, das kurzfristig erleichtert, aber langfristig entwürdigt.
Sucht ist also nicht nur ein biologischer Unfall oder eine moralische Schwäche. Sie ist oft eine Notlösung. Ein soziales Symptom. Und damit ein gesellschaftlicher Auftrag.
Was sagt die Wissenschaft dazu?
Neben der charmanten Ratten-Analogie gibt es auch harte Zahlen:
Die Schweiz verzeichnete 2023 192 drogenbedingte Todesfälle.
Die Zahl der Menschen mit Verhaltenssüchten (Gaming, Internet, etc.) wird auf mehrere Hunderttausend geschätzt.
Laut WHO könnte die Gaming Disorder in westlichen Ländern bis zu 3% der Bevölkerung betreffen.
Noch immer fokussiert sich die Suchtprävention stark auf Substanzen. Verhaltenssüchte hingegen bleiben oft unter dem Radar, obwohl sie psychisch genauso zerstörerisch sein können.
Was nun? Der Ausweg aus dem Käfig
Die gute Nachricht: Der Ausweg ist nicht Verzicht, sondern Beziehung. Nicht Strafe, sondern Struktur.
Sprich darüber. Offener Dialog nimmt der Scham die Macht.
Schaffe Verbindungen – zu Menschen, nicht Maschinen.
Erkenne früh, was kompensatorisch und was gesund ist.
Und vielleicht: Bau dir deinen eigenen kleinen Rat Park. Ohne Käfigstangen, aber mit echten Freunden, echter Wärme und einem Minimum an TikTok/Insta/YouTube etc.
Sucht als Beziehungsgeschichte
Vielleicht sollten wir Sucht weniger als Störung, sondern mehr als Beziehungsgeschichte sehen. Als Ausdruck davon, wie sehr wir nach Sinn, Zugehörigkeit und Linderung suchen. Der Weg raus ist kein harter Cut, sondern eine neue Verbindung.
Und falls du dich gerade in diesem Artikel ein bisschen ertappt fühlst: Willkommen im Club. Wir sind alle nur ein paar Klicks von unserer nächsten kleinen Sucht entfernt. Aber auch nur ein Gespräch entfernt von echter Verbindung.